Dieser Schäfer zieht bei jedem Wetter durch den Wiesengrund: Jetzt sorgt er sich um seine Tiere
Schäfer Karl-Ludwig Schwarz (65) hockt auf einem Jagdstuhl mit Lederpolster im Schatten einer etwa 400 Jahre alten Eiche. Um ihn herum grast eine Herde aus Dutzenden Schafen und Ziegen. Die Szene hier auf den Wiesen zwischen Rednitz und Kreuzbach erinnert an ein Bild von Caspar David Friedrich, aber wir sind im Hainberg, einem 213 Hektar großen Naturschutzgebiet in Oberasbach und Stein.
Luk, wie sich der Schäfer nennt, zieht von morgens bis abends mit einer Herde der Schäferei Wüst in Vach über die Weiden im Hainberg. Die Merinolandschafe und Burenziegen sind tagsüber nicht eingezäunt, sondern laufen frei herum und trinken aus dem Bach, während ein Reh vom Weiher aus die friedliche Herde beobachtet.
Doch für Luk ist das Idyll nicht perfekt. Ihm und seiner Herde, die hier gerade weidet, kommt ein Problem mit rasender Geschwindigkeit näher: die Blauzungenkrankheit. Und sie kann seinen Tieren den Tod bringen. Luk ist seit 50 Jahren Schäfer und er hat seit ebenso vielen Jahren Sorgen um seine Tiere, aber selten waren sie so groß wie heute.
In den betroffenen Schafherden in den Niederlanden, wo die Seuche sich bereits seit 2023 schnell verbreitet, sind bereits bis zu 75 Prozent der infizierten Tiere gestorben, berichtet die Diplom-Biologin Elke Reinking, Pressesprecherin am Friedrich-Loeffler-Institut (FLI), das die Ausbreitung der Seuche beobachtet.
Im Juli und August gab es 6.394 betroffene Betriebe in Deutschland, im Juni waren es noch 13. Sogar das Bundesleistungshüten, die deutsche Meisterschaft im Schafehüten, die im September in Hessen ausgetragen werden sollte, wurde gerade «aufgrund der sich rasant verbreitenden Blauzungenkrankheit» abgesagt. Ebenso viele Wettbewerbe im Landeshüten, unter anderem in Bayern und Baden-Württemberg.
Übertragen wird die Seuche durch Gnitzen, kleine blutsaugende Mücken, die sich vor allem im Sommer und im Herbst stark vermehren. «Gnitzen sind das Plankton der Lüfte und verbreiten die Krankheit wie ein Tsunami», sagt FLI-Vizepräsident Martin Beer.
Die Gnitzen würden bei Luk viel Beute finden können. Es ist ein Horrorszenario für den Schäfer: «Alle Wiederkäuer verrecken, wenn sie’s kriegen, fallen um wie die Mucken, auch die Rehe».
Er telefoniert deshalb viel mit Kollegen, und das ist in diesen Tagen oft mit schlechten Nachrichten über kranke und gestorbene Schafe verbunden. Gerade hat ihm ein Schäfer in Würzburg gesagt, dass die Blauzungenkrankheit bei ihm angekommen sei. Die Tierseuchenabfrage bestätigt den Fall in Würzburg: am 27. August wurde der Blauzungenvirus dort festgestellt.
Daniela Rickert, Amtstierärztin in Nürnberg, ist noch kein Fall in ihrer Stadt bekannt. Aber Entwarnung geben kann sie deshalb nicht. «Morgen könnte es schon ganz anderes sein», warnt Rickert und empfiehlt die Impfung als Schutz vor dem Blauzungenvirus: «Man soll die Schafe sofort impfen, falls noch nicht geschehen!», rät die Tierärztin.
Denn die Seuche verbreitet sich explosionsartig Richtung Südosten aus. In Hessen gab es sie im Juni noch nicht. Im Juli waren vier Betriebe betroffen. Und im August schon 369. Bayern hatte den ersten Fall am 14. August im Kreis Aschaffenburg auf. Seither gibt es 32 betroffene Betriebe und es werden täglich mehr.
Luks Herde ist bereits geimpft. Dennoch sorgt er sich um seine Schafe, weil auch geimpfte Tiere krank werden können. Trotz seiner Sorgen richtet sich Luk ein für sein Nickerchen nach der Brotzeit am Nachmittag. «Das ist ja das Schöne an meinem Beruf, dass man dabei auch mal schlafen kann.»
Während Luks Siesta wachen seine beiden Altdeutschen Hütehunde über die Herde: Anton und Django sind Luks ständige Begleiter. Der Schäfer bindet Anton fest und lässt Django zu den Schafen. Sie dürfen nicht zusammen los, weil sie sich nicht mögen. Django biß Anton beim Raufen ein Auge aus. Daher bleibt ein Hund stets angeleint und darf nicht mitarbeiten, während der andere in die Furche laufen darf.
Die Wetter-App auf Luks Handy zeigt 36°C. Aus seinem dicken Filzhut läuft der Schweiß. Am Ende des Tages hat er fünf Liter Wasser getrunken, je fünf Grad ein Liter pro Tag, so lautet seine bewährte Faustregel. Am liebsten trinkt er das Wasser aus der Quelle hinter dem Wehr. Aber da kommt er heute nicht hin, weil die Herde an der alten Eiche grast. Das Wasser, das hinter dem Wehr aus dem Stein fließt, ist kühl und schmeckt besser als aus der Leitung. «Da kriegt’s gar nichts, nich mal die Scheißerei», schwört Luk auf die Wasserqualität der Quelle hinter dem Wehr.
Mit 15 begann Luk seine Lehre zum Schäfer. 1976, da war er im zweiten Lehrjahr, war ihm klar, dass er nie wieder etwas anderes machen wollte. Ein halbes Jahrhundert später ist Luk noch immer gern jeden Tag draußen mit seiner Herde. Die Tiere kennen weder Wochenende noch Feiertag. Und er als Schäfer muß mit ihnen bei jedem Wetter raus. Schließlich wollen die Schafe und Ziegen auch bei Regen, Blitz und Hagel fressen.
Luk lehnt an seiner Schäferschippe. Der Stock stützt ihn an langen Tagen draußen auf der Weide. Er liebt das Holz der Schlehe und hat schon an die 160 Stöcke. Und wie viele Schafe sind es denn nun genau? «Kommstes und zählstes, dann weißtes!»
Die Schafe sind durchnummeriert und gekennzeichnet mit gelben Ohrmarken, die in die Ohren der Tiere gestochen werden. Gerade läuft 9020 vorbei. Was für Luke eine Nummer ist, ist für Melanie (30) aus Fürth Gertraud. Melanie gehört zu den Menschen, die fasziniert sind von Schäfer Luk und seinen Tieren und hat 9020 zu ihrem Lieblingsschaf erkoren. «Die Gerdi, die ist so kuschelig. Sie ist mein Lieblingsschaf und kommt immer wieder her zu mir», freut sich Melanie über das strahlend weiße Schaf. Sie knuddelt 9020 und macht dabei ein Selfie mit ihr, das sie auf Instagram postet.
Es gibt noch mehr Menschen wie Melanie, die dem Schäfer und seinen Tieren die Treue halten. Luk ist kein Einsiedler. Immer wieder kommen Menschen in den Hainberg, weil sie die Schafe sehen wollen. Ein Mann mit Rucksack geht gezielt zur alten Eiche, unter der Luk rastet. «Aus dem Büro raus gleich zu dir!», begrüßt der Wanderer den Schäfer. Uwe (61), ebenfalls aus Fürth, arbeitet bei der Rohrreinigung auf der anderen Seite der Rednitz. Uwe besucht Luk bereits «länger als 30 Jahre».
«Mein Vater Ernst war auch schon hier», erinnert sich Uwe. «Die Tiere sind so ruhig, und dann bin auch ich so ruhig. Raus aus dem Streß. Und wenn der Luk mit seiner Herde durch den Hainberg zieht, das ist wie Balsam für die Augen», erzählt Uwe.
Am Nachmittag sondert sich ein Schaf von der Herde ab und legt sich ins Gras. Es lammt und will dafür allein sein. Nach einer halben Stunde landet das Neugeborene sanft im Gras. Die Mutter leckt es sauber. So entsteht eine feste Bindung. Mutter und Lamm bleiben sich ein Leben lang nah und manchmal kommt aus der Herde sogar die Großmutter und begrüßt lieb ihr Enkellämmchen.
Das Lamm steht nicht auf, jetzt stupst die Mutter das Neugeborene mit ihrer Nase an. Als das nichts hilft, kratzt die Mutter ihr Kind mit ihrem rechten Vorderbein: Steh endlich auf! Das Lamm muss trinken. Nach ein paar Stupsern steht das Lamm endlich auf und geht unter die Mutter. Doch es findet die richtige Stelle nicht. Der Schäfer nennt sie Strich, so wie bei der Kuh die Zitze. Doch das Lämmchen weiß noch nicht ganz genau, was es sucht oder wo es suchen soll. Es weiß nur, dass das, was es sucht, unter der Mutter sein soll.
Lamm und Schaf reden miteinander. «Mäh» fragt leise und mit heller Stimme das Lämmchen. Es fragt die Mutter: «Bist Du noch da?» «Ja, ich bin noch da», antwortet die Mutter. Ihr Mäh mit lauter und dunkler Stimme. Unser Lämmchen aber findet die richtige Stelle noch immer nicht. Es sucht mit seinem Mäulchen am Hals der Mutter und wundert sich, dass keine Milch kommt. Schließlich stupst die Mutter ihr Lamm mit dem Kopf Richtung Euter. Jetzt kann es trinken und groß und stark werden.
In der nächsten Stunde erblicken vier Lämmer im Hainberg das Licht der Welt. Das neue Leben und der drohende Tod durch die näher kommende Blauzungenkrankheit liegen auf dieser malerischen Weide im Hainberg so nah beieinander an diesem Tag.
Damit Luk weiß, welches Lamm zu welcher Mutter gehört, markiert sie mit Strichen an unterschiedlichen Stellen auf dem Fell, einmal hinterm Ohr, ein anderes Mal auf dem Rücken. Dafür benutzt er seinen dicken Viehzeichenstift aus grüner Wachsmalkreide.
Am Abend führt Luk die Herde zum Nachtpferch. Das Gehege liegt auf einem Acker nahe des Weihers, eingezäunt mit Elektronetzen. Nicht aus Schutz vor dem Wolf, den es hier noch nicht gibt, sondern damit die Tiere nicht auf der Gebersdorfer Straße vor ein Auto laufen.
Ein Lamm ist noch ziemlich schwach zu Fuß. Es darf auf Luks Vespa mitfahren. Das Mutter läuft nebenher. Der glückliche Luk fährt in den Sonnenuntergang. Auf seinem roten Motorroller das vor einer Stunde geborene Lämmlein. Ein Bild wie auf einer Postkarte.
Meine Begegnungen mit Schäfer Luk: