«Die Aufgabe des Staates ist es, die Freiheit aller zu schützen»
Julian Vonarb, Oberbürgermeister von Gera, wendet sich in einem Brief an seine Mitbürger. Anlass dafür war ein unangemeldeter Corona-Protestzug am 20. Dezember 2021 in Gera.
Mit Besorgnis habe ich die Geschehnisse auf Geras Straßen am Abend des 20. Dezembers verfolgt. Über 2.000 Menschen nahmen an einem unangemeldeten Protestmarsch teil, bei dem weder ausreichend Abstand gehalten noch Mund-Nasen-Bedeckungen getragen wurden. Damit nahmen die Teilnehmenden einerseits bewusst das Risiko in Kauf, dass die Infektionszahlen in einer ohnehin angespannten Lage weiter steigen und das Gesundheitssystem weiter belastet wird. Darüber hinaus haben sie auch gegen geltendes Recht und Gesetz verstoßen. Wer an derlei Umzügen teilnimmt, zeigt sich nicht nur unsolidarisch gegenüber seinem Nächsten, sondern verkennt zudem die entscheidende Tatsache: Wir befinden uns nach wie vor in einer globalen Epidemie, der bis heute rund 5,3 Millionen Menschen weltweit zum Opfer gefallen sind. Ich habe Verständnis dafür, dass die erneuten Einschränkungen nach knapp zwei Jahren Pandemie eine große Belastung darstellen. Dennoch: Nur durch ein gemeinsames, solidarisches und verantwortungsvolles Handeln der Bevölkerung können wir das Virus und die Entstehung neuer Varianten in den Griff bekommen. Darüber hinaus gelten Recht und Gesetz für alle und ich appelliere daher an die Menschen unserer Stadt, auf die Teilnahme an solch illegalen «Spaziergängen» zu verzichten, um sich und andere nicht zu gefährden. Große Sorge bereitet mir in diesem Zusammenhang vor allem die zunehmende Gewaltbereitschaft der Teilnehmenden solcher Veranstaltungen. Es gibt zahlreiche erschreckende Beispiele aus der jüngsten Vergangenheit, in denen sich Polizisten und Mitarbeitende aus Politik und Verwaltung in Thüringen mit konkreten Anfeindungen, Bedrohungen und Gewalt konfrontiert sahen. Diese Radikalisierungen sind nicht tolerierbar und wir sind als Gemeinschaft dazu aufgefordert, dagegen vorzugehen. Es erschüttert mich, dass Menschen aus der Nachbarschaft nachweislich mit Rechtsextremen und ‑populisten gemeinsame Sache machen, indem sie solche Proteste initiieren oder organisieren und auch nicht davor zurückschrecken, ihre Kinder mitzunehmen. Umso wichtiger erscheint es mir, dass wir als Kommune Verantwortung übernehmen, indem wir die Bürgerinnen und Bürger vor Ort aufklären und daran erinnern, dass sie mit ihrer Teilnahme nicht nur ihre eigene, sondern auch die Gesundheit der anderen gefährden.
Die Pandemie stellt eine enorme Bewährungsprobe für unsere Demokratie dar. Einige Menschen fürchten angesichts von bestehenden Einschränkungen um ihr Recht auf freie Entfaltung und rufen gar zum aktiven Widerstand auf. In einer Demokratie ist Freiheit jedoch nicht grenzenlos, nie absolut. Die individuelle Freiheit endet dort, wo sie die Freiheit des anderen beschränkt. Das heißt: Wir können alles tun, was einem anderen nicht schadet. Wenn Regeln für Versammlungen und Demonstrationen unter den Bedingungen einer Pandemie nicht eingehalten werden, dann passiert jedoch genau das: Es wird anderen geschadet! Die Aufgabe des Staates ist es, die Freiheit aller zu schützen; gleichzeitig muss er den Schutz aller gewährleisten und das Wohl der Schwächsten sichern. In der Pandemie ist das eine fortwährende Gratwanderung, die nur durch den Willen zur Solidarität mit den Schwächsten, zum Kompromiss und zum Konsens zu meistern ist. In diesem Sinne hoffe ich auf die Besonnenheit und Verbundenheit der Geraerinnen und Geraer und wünsche allen ein gesundes und zuversichtliches neues Jahr 2022.