Mit Wertschätzung, Respekt, Hilfe und Unterstützung gewinnt ein Bürgermeister in der Oberlausitz das Vertrauen der Bürger in schwerer Zeit

Published On: 23. Dezember 2021

Über Nacht verloren 1991 im 14.000 Einwohner zählenden Bischofswerda 3.500 Menschen ihre Arbeit. Über Nacht kamen 800 Flüchtlinge 2015 nach Bischofswerda. Über Nacht stoppte 2020 der Lockdown den Fachhandel, Gastronomie, Hotellerie und viele Handwerksbetriebe in Bischofswerda.

Treuhand, Flüchtlingswelle, Pandemie und immer wieder Strukturwandel fordern und belasten die Bewohner der Kleinstadt. Wie schafft es der Bürgermeister von Bischofswerda, den Zusammenhalt der Menschen zu wahren, die kurz vor Weihnachten auch vor seinem Rathaus auf die Straße gehen?

Bundesweit kommt es derzeit zu Demonstrationen gegen die geplante allgemeine Impfpflicht, welche die Bundesregierung im Februar nächsten Jahres auf den Weg bringen möchte. Denn die bereits bestehende Impfpflicht in Kranken- und Pflegeeinrichtungen wird von Bundestag und Bundesrat als noch nicht ausreichend bewertet.

Auch vergangenes Wochenende fanden erneut im gesamten Bundesgebiet Versammlungen statt, die als Kundgebung oder «Spaziergänge» oftmals auch von oder mit der AfD durchgeführt wurden. Dies ist kein Wunder. Denn laut einer Umfrage zu einer allgemeinen Covid-19-Impfpflicht im gesamten Bundesgebiet nach Parteipräferenz sind lediglich 27 % aller Anhänger der AfD für eine allgemeine Pflicht zum Impfen gegen das Corona-Virus. Die Anhänger aller anderen im Bundestag vertretenen Parteien stehen in der überwiegenden Mehrheit hinter einer allgemeinen Impflicht Die größte Zustimmung gibt es bei den Parteianhängern der Union (85 %) und der SPD (83 %).

Die Impflicht ist nach Auffassung von Prof. Dr. Holm Große, Oberbürgermeister der Großen Kreisstadt Bischofswerda, nur ein Auslöser für den Drang der Bürger, sich wieder Gehör zu verschaffen. Der parteilose Große ist seit 2015 Bürgermeister der Stadt am «Tor zur Oberlausitz». Über die Demonstrationen sagt Große:

«Leider gibt es in verschiedenen Orten auch Extreme, welche die Unsicherheit und die Überforderung der Menschen für ihre ‹Profilierung› ausnutzen wollen. Aber das darf nicht dazu führen, dass normale Bürgerinnen und Bürger sich nicht mehr trauen, ihre Meinung zu sagen oder einfach nur Fragen nach der Sinnhaftigkeit bestimmter Maßnahmen zu stellen. Denn diese Frauen, Männer und Heranwachsenden dürfen wir nicht für die Demokratie und die Zukunft unseres Landes verlieren.»

Der Wirtschaftsstandort Lausitz leidet wie allerorts im Bundesgebiet unter den Coronawellen und der diesen geschuldeten Lockdowns und Reisebeschränkungen. Vor allem der für die Region wichtige Tourismus ist, einschließlich der Gaststätten und des Innenstadthandels, hart getroffen. Steigende Inflation, niedrige Zinsen und Insolvenzen gefährden Arbeitsplätze. In Zeiten der Krise stünde umsichtige Bürgernähe der Bundesregierung gut an, meint Große:

«Die sogenannte ‹große Politik› darf nicht in einer Blase leben. Sie muss raus, zu den Menschen, muss deren Ziele, Wünsche, und täglichen Herausforderungen kennen. Gerade einfache Menschen werden leider viel zu oft unterschätzt. Die verstehen sehr gut, wenn man sich die Mühe macht, ihnen zuzuhören, mit ihnen zu reden, gemeinsam mit ihnen Lösungen zu suchen. Das erlebe ich tagtäglich. So war ich auch am Samstag in unserer Stadt unterwegs, um unseren Händlern und Gastronomen, deren Existenz in vielen Fällen bedroht ist, Mut zu machen – und beim Einkaufen mit unseren Menschen ins Gespräch zu kommen. Die Schlüsselwörter heißen Wertschätzung, Respekt, Hilfe und Unterstützung – und alle beruhen auf Gegenseitigkeit. Danke an alle, die für andere da sind, gerade in diesen schwierigen Zeiten!»

Die Menschen der Lausitz haben sich in der jüngsten Geschichte immer wieder auf tiefgreifende Veränderungen und Einschnitte einstellen müssen. Der Strukturwandel trifft heute mit dem  Niedergang des Bergbaus im Zuge des Kohleausstiegsgesetzes des Bundestages insbesondere die Braunkohlereviere. Aber er begann vielerorts viel früher, so auch in Bischofswerda. Die Stadt blickt auf eine lange Tradition handwerklicher, gewerblicher und industrieller Ansiedlungen zurück – zu Beginn der 1990er Jahre wurde sie von einem erdrutschartigen Strukturwandel getroffen. Sie war bis dahin von der Produktion von Beleuchtungsglas, Glasveredlungs- und keramischen Erzeugnissen und vor allem von Landmaschinen im Fortschritt Mähdrescherwerk Bischofswerda/Singwitz geprägt.

Dieser Betrieb hatte Ende der 1980er Jahre als weltweit drittgrößter Produzent von Mähdreschern etwa 6.900 Beschäftigte, davon rund 3.500 in Bischofswerda. Anfang der 90er wurde das Bischofswerdaer Werk trotz weltmarkttauglicher Produkte von der Treuhand abgewickelt. Tausende Familien im Bischofswerdaer Land kämpften danach mit den Auswirkungen der (Langzeit-)Arbeitslosigkeit. Gleichermaßen verlor Bischofswerda durch den Verlust des Kreissitzes an Bedeutung. 1994 ging der Landkreis Bischofswerda in die Landkreise Bautzen und Kamenz auf, 2008 folgte mit der zweiten Kreisgebietsreform weiterer Verlust von öffentlichen Institutionen sowie damit verbundenen Umsätzen und Kaufkraft in der (Innen-) Stadt.

Erst langsam belebten kleine und mittlere Unternehmen aus den Branchen Kunststoffverarbeitung, Stahl- und Metallbau, Medizintechnik, Textilindustrie, Werkzeug- und Maschinenbau sowie Umwelttechnik die Wirtschaft von Bischofswerda wieder. Schrittweise greifen nun Großes Konzepte zur Ansiedlung weiterer Unternehmen, gewinnt «Schiebock», wie Bischofswerda von seinen Bewohnern im Volksmund liebevoll genannt wird, mit der im neuen Industrie- und Gewerbegebiet Nord 2 in Vorbereitung befindlichen Landesuntersuchungsanstalt wieder an Zentralität, planen Stadt und Bürgerschaft die Wiederbelebung des traditionellen «Kultis» als modernes Kommunal- und Kulturzentrum.

Nichtsdestotrotz hat überall in der Lausitz bereits vor der Pandemie die Krisenbewältigung viel Kraft gefordert. Nicht immer hat die Bundespolitik für die Nöte der Provinz ausreichend Empathie übrig. Große wünscht sich mehr Wertschätzung für die krisenerfahrenden Menschen im Osten: «Das ‹Bashing›, das heute leider auch durch viele Medien gegenüber den Ostdeutschen betrieben wird, führt dazu, dass uns wertvolle Menschen verloren gehen (können). Wenn man auf Jede oder Jeden draufhaut, der mit einer Aussage oder einem Gedanken vom Mainstream abweicht, führt das zu Vertrauensverlust. Nach dem Motto: ich bin dann mal weg und bringe mich nicht mehr für unsere Gesellschaft ein. Ehemalige DDR-Bürger wissen, welche Folgen eine solche ‹innere Emigration› für die Produktivität und Zukunftsfähigkeit mit sich bringen kann…Alle unsere Bürgerinnen und Bürger sind für unsere Gesellschaft von besonderer (System-) Relevanz, ebenso wie für ihre Familien und ihr privates Umfeld.»

Dass die Zahl der Unzufriedenen, die sich derzeit auf den Straßen der Bundesrepublik versammeln, nicht noch großer ausfällt, erklärt sich Große mit der Angst vor Vorverurteilung.

«Viele sagen lieber gar nichts mehr, weil sie dann ganz schnell einer Schablone zugeordnet werden, die ihnen nicht gerecht wird. Ich bin auch manchmal ratlos und habe nicht die Lösung für alles. Wenn ich zu 100 Prozent wüsste, was richtig ist, wäre alles einfacher. Aber wir können die aktuellen Herausforderungen, so wie das ganze Leben, eben nicht in ‹Richtig› oder ‹Falsch› einteilen und schwarz-weiß betrachten. Die Natur hat tausende Farben und Zwischentöne, so wie unser gesellschaftliches Zusammenleben. Wichtig ist, dass wir Menschen bleiben – und nach Möglichkeit beieinander. Wir müssen miteinander reden – und auch wenn wir einmal unterschiedlicher Meinung sind, im Gespräch bleiben», appelliert Große an die Bereitschaft seiner Mitbürger, den Zusammenhalt trotz manchmal unterschiedlicher Auffassungen zu wahren.

Für Große ist die Bewältigung der Auswirkungen der Pandemie nicht die erste Krise, die er im Amt als Oberbürgermeister der Großen Kreisstadt Bischofswerda zu meistern hat. Asylsuchende, die 2015 ins gesamte Bundesgebiet einreisten, stellen auch die Bürger von Bischofswerda vor eine riesige Herausforderung. Rückblickend sagt Große über diese Erfahrung:

«Ich stehe für ein friedliches Zusammenleben aller Menschen in unserer Stadt. Als im Jahr 2015 praktisch über Nacht (und ohne rechtzeitiger vorheriger Ankündigung) durch den Freistaat Sachsen mehr als 800 Flüchtlinge in eine von ihm zur Erstaufnahmeeinrichtung umgewidmete Fabrikhalle in unserer Kleinstadt gebracht wurden, habe ich zu unseren (verunsicherten und teilweise aufgebrachten) Einwohnern sinngemäß gesagt: ‹Natürlich werden wir gemeinsam unsere Fragen an die Politik stellen sowie Ordnung und Sicherheit einfordern – aber bitte lasst die Bewohner der Erstaufnahme in Ruhe. Darauf hat jeder Mensch, der in unserer Stadt wohnt bzw. vorübergehend zu uns kommt, ein Anrecht. Wer das nicht respektiert, greift auch unsere Stadt und mich als Oberbürgermeister persönlich an.› In Bischofswerda ist so ein vernünftiges Miteinander entstanden, es entwickelte sich sogar ein Netzwerk, das sich um die Neuankömmlinge ebenso kümmerte wie um die Bewohnerinnen und Bewohner des bereits zuvor bestehenden Asylbewerberheims.»

Vielleicht kommt Bischofswerda noch relativ gut durch die derzeitige Krise, weil der Zusammenhalt der Bürger durch die bereits gemeinsam bewältigten Herausforderungen gedeihen konnte. Gemeinsam Grenzerfahrungen durchzustehen, das schweißt zusammen, auch wenn man unterschiedliche Ansichten hat und verschiedener Herkunft ist. Große betont:

«Bischofswerda mit seinen rund 11.000 Einwohnern zeichnet sich auch heute noch durch seine Weltoffenheit und das Miteinander aller hier lebenden Menschen (aktuell aus 45 Nationen) aus. Gerade unsere vielfältigen Vereine, die sich aktiv in die gesellschaftliche Entwicklung unserer Stadt einbringen, sind dabei sehr wichtig. Gemeinsam mit unserer starken Zivilgesellschaft verwehren wir uns gegen jedwede Form politischer Vereinnahmung oder gar Radikalisierung. Das hat nicht zuletzt das Zusammenleben mit den und die bürgerschaftliche Hilfe für die Flüchtlinge in der Erstaufnahmeeinrichtung des Freistaates Sachsen in den Jahren 2015-2017 gezeigt.»

Bischofswerda hat sich unter seinem Bürgermeister bereits 2015 gemeinsam erfolgreich gegen Ausgrenzung und gegen einen Schub von Rechts gestellt. Die Voraussetzungen stehen gut, dass dies auch 2022 weiterhin erfolgreich gelingen wird. Große gibt den Extremisten einfach keine Chance, in Bischofswerda Fuß zu fassen.

Verwendete Quellen:

Telefonat mit Prof. Dr. Holm Große, Oberbürgermeister von Bischofswerda

ZDF-Politbarometer vom 26.11.2021: Umfrage zu einer Corona-Impfpflicht in Deutschland nach Parteipräferenz, abrufbar unter der URL https://www.zdf.de/nachrichten/politik/politbarometer-corona-massnahmen-impfung-100.html?slide=20211111-0742-06-1012

Bildhinweis:

Foto: Wolfgang Wittchen

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