Journalist in Gaza erfährt live vom Tod seiner Familie
Wael Dahdouh, Al Jazeera-Korrespondent in Gaza, erfuhr während einer Liveschaltung vom Tode seiner Familie. Es war ein dramatischer Fernsehmoment. Von Aktham Suliman
Wael Dahdouh, selbst aus Gaza und Palästina-Korrespondent des arabischen Nachrichtensenders Al Jazeera, war in der Nacht zum 25. Oktober auf Sendung und versuchte wie viele andere Kollegen, die Lage in seiner Stadt zu beschreiben: «Eine Reihe Luftangriffe israelischer Kampfflugzeuge fand an mehreren Orten statt, im Gazastreifen und in Gaza-Stadt, im Norden und im Süden. Was passiert ist und immer noch passiert, verheißt nichts Gutes. Vieles deutet darauf hin, dass diese Nacht eine blutige sein wird», sagte er, während auf dem Bildschirm eine Geisterstadt im Dunkel vor dem Einschlag israelischer Raketen zu sehen war. Das unmittelbar folgende Handygespräch wurde von Millionen Zuschauern in der arabischen Welt live mitverfolgt.
«Wer? Wer ist da?», fragte die Stimme des Reporters genervt eine kaum zu hörende Person am anderen Ende der Leitung.
«Was? Was ist passiert?». Dann wiederholte Dahdouh das ihm Gesagte, als ob er sich vergewissern wollte, dass er richtig gehört hatte: «Sie haben zugeschlagen? Ihr wisst nicht, wo alle sind? Mann! Sag endlich, was los ist!»
«Hier, rede mit deiner Tochter!», antwortete die andere Person. Eine weinende und schreiende Frauenstimme wurde über das Handy und das noch offene Mikrofon des Reporters übertragen.
Wenig später verkündete ein schluchzender Moderator auf dem Bildschirm den Tod von Dahdouhs Frau Amina, der sechsjährigen Tochter Sham, des 16-jährigen Sohnes Ahmad und des 45 Tage alten Enkelkindes Adam bei einem israelischen Luftangriff auf das Lager Nusairaat im mittleren Gazastreifen. Mit einem Schlag wurde Wael Dahdouh von einem preisgekrönten Journalisten, der die Geschichten anderer erzählt, zur Hauptfigur.
Ursprünglich wollte der 53-jährige nicht mal Journalist werden. Geboren im Frühjahr 1970 in der Altstadt von Gaza, wuchs er in einer Mittelschichtfamilie auf und träumte davon, im Ausland Medizin zu studieren und in Gaza als Arzt zu arbeiten. Doch mit 18 Jahren wurde er von der israelischen Besatzungsmacht wegen der Teilnahme an der ersten palästinensischen Intifada (1987–1993) verhaftet und verbrachte sieben Jahre im Gefängnis. Zu lange für eine Karriere als Arzt. Nach seiner Freilassung studierte er Journalismus und Politologie in Gaza und Jerusalem und arbeitete anschließend für verschiedene palästinensische und arabische Medien, bevor er 2004 zu Al Jazeera wechselte, wo er als Reporter und später als Büroleiter über die Gazakriege 2008, 2012, 2014, 2018, 2021 und jetzt 2023 berichtete.
Nun wird der erfahrene Journalist seinem Millionenpublikum weniger als hartnäckiger Reporter in Erinnerung bleiben, der wochenlang pausenlos über den Gazakrieg berichtet. Vielmehr begleiten ihn die Zuschauer in diesem Herbst als betroffenen Vater, Großvater und Ehemann: Wie er sich im Krankenhaus weinend über den Leichnam seiner Tochter beugte und der israelischen Armee Rachsucht vorwarf, weil sie das Lager bombardierte, in das seine Familie geflohen war, obwohl es hieß, nur der Norden des Gazastreifens werde bombardiert.
Die Zuschauer wurden auch Zeugen des letzten Aktes dieser Tragödie, als am Tag nach der Liveschaltung mit der Todesnachricht die Opfer beerdigt wurden und Wael Dahdouh als Vorbeter das Totengebet für seine eigene Familie sprach: Auch diese Trauerfeier wurde live übertragen. Und dann der Akt nach dem letzten Akt: Einen Tag nach der Beerdigung war Wael Dahdouh wieder live auf Sendung, nicht als Betroffener, sondern als professioneller Reporter – wie immer, und doch war diesmal alles anders.
Aktham Suliman ist Autor des Buches «Krieg und Chaos in Nahost: Eine arabische Sicht», 17,90 €, https://www.aktham-suliman.de