Der kontroverse Fall des Tunesiers Sami A.

Published On: 20. Juli 2018

Die Deportation des Sami A. glich mehr einer Entführung denn einer Abschiebung. Vieles deutet darauf hin, daß die Exekutive die Entscheidung eines Gerichts mißachtete.

Dies ist die Dokumentation einer erschreckenden Entmenschlichung der Politik in Deutschland. Diesen Niedergang der politischen Kultur mit einem „Rechtsruck“ oder gar mit „Populismus“ zu beschreiben, käme geradezu einer Beschönigung der gegenwärtigen Missstände gleich.

Dies ist eine Dokumentation, wie sich die CSU, aber auch die CDU, langsam aber stetig von ihren christlichen Grundwerten entfernen. Keinen anderen Schluß lassen die menschenverachtenden Äußerungen von Horst Seehofer, Alexander Dobrindt, Markus Söder (alle drei CSU) und Armin Laschet (CDU) zu. Ginge es nicht um Menschenleben und um die Einhaltung internationaler Verträge wie der Genfer Flüchtlingskonvention, könnte man die menschenverachtenden Äußerungen dieser CSU- und CDU-Politiker als menschenfeindliches Weltbild alter weißer Männer abtun. Aber es geht um Leben oder Tod von Menschen! Mit dem Leben dieser armen Flüchtlinge darf man nicht spielen! Das Schicksal von Asylbewerbern darf nicht zum Kalkül von Wahlkämpfen mißbraucht werden.

Diese Dokumentation belegt, wie das reiche Deutschland, das seit 17 Jahren in Afghanistan Krieg führt – zeitweise ohne völkerrechtliche Grundlage – zum 69. Geburtstag seines Bundesministers des Inneren 69 Afghanen in das Kriegsgebiet abschiebt.

Und diese Dokumentation belegt, wie Deutschland als Rechtsnachfolger des Deutschen Reiches, das Tunesien angegriffen hat und von November 1942 bis Mai 1943 in Tunesien einmarschiert ist und mindestens 76.000 Tunesier tötete und verwundete, einen vierfachen Familienvater bei Nacht und Nebel nach Tunesien abschiebt, obwohl ein ordentliches Gericht wenige Stunden zuvor seine Abschiebung ausdrücklich verboten hatte – weil dem Tunesier nach der Abschiebung Folter und Misshandlung drohen könnten. Die „Tagesschau“ (ARD) zitiert am 17.07.2017 Radhia Nasraoui, Menschenrechtsanwältin in Tunesien:

„Es gibt nach wie vor Folter in Tunesien. Auch nach der Revolution gegen den Diktator Ben Ali sind in Tunesien Menschen durch Folter gestorben.“

Seit dem 14.03.2018 um 12.30 Uhr ist Horst Seehofer Bundesminister des Inneren. Am 16.03.2018 lautet die Schlagzeile auf der Titelseite der BILD-Zeiung (Bundesausgabe):

„Der neue Heimat-Minsiter Seehofer: ‚Der Islam gehört nicht zu Deutschland'“

Seehofers Antrittstermin bei der BILD-Zeitung ist der Beginn der Medienpartnerschaft des neuen Innenministers mit der kampagnenstarken Boulevardzeitung. Schon Seehofers Amtsvorgänger Thomas de Maizière verkündet als Innenminister auf der Titelseite der „BILD am Sonntag“ vom 30.04.2017:

„Wir sind nicht Burka.“

Solchen spitzen Schlagzeilen wohnt nicht nur latent die Gefahr inne, Minderheiten auszugrenzen und die Gesellschaft zu spalten. Vor der bayrischen Landtagswahl am 14.10.2018 will sich der CSU-Politiker Seehofer auf Kosten von Flüchtlingen und Asylanten beim Klientel der AfD profilieren.

Diese Dokumentation blickt in die Abgründe des politischen Betriebs in Berlin, München und Düsseldorf. Die Sprache verroht, die Sitten verkommen und die Debatten vergiften das Gemeinwohl.

Ein Urteil „im Namen des Volkes“ schützt nicht mehr vor behördlicher Willkür. Justitias Gerechtigkeit wurde politischer Effekthascherei geopfert – und zwar in einer Medienpartnerschaft mit der BILD-Zeitung, die bei der Entführung des Sami A. als einziges Medium exklusiv dabei sein darf und diese staatlich organisierte Entführung auf unmenschliche Weise propagandistisch ausschlachtet.

Seehofers Pakt mit dem Teufel ist seine Medienpartnerschaft mit der BILD-Zeitung.

Margit Balkenhol (49), Richterin des mißachteten Verwaltungsgerichts in Gelsenkirchen, musste durch diesen exklusiven BILD-Artikel von der Deportation des Sami A. erfahren, dem diese Richterin erst am Vortag einen Schutz vor Abschiebung gewährte.

Diese Dokumentation blickt zurück auf die Ereignisse von Anfang Mai bis Mitte Juli 2018. Wer genau hinhört, was die uns Regierenden Horst Seehofer, Alexander Dobrindt, Markus Söder und Armin Laschet sagen, der ahnt, in welche Richtung dieses Land steuert. Und der erahnt: wo dem Einzelnen Unrecht widerfährt, da droht der Justiz der Verlust ihrer Unabhängigkeit.

Doch zunächst darf ich Ihnen kurz Sami A. vorstellen: Er ist Tunesier und 42 Jahre alt. Er kam 1997 als Student nach Deutschland. Seine Ehefrau ist Deutsche. Das Ehepaar hat vier Kinder. Die Familie lebt in Bochum – seit dem 13.07.2018 ohne den Vater, der an diesem Tag entführt wurde.

Im März 2006 leitete die Bundesanwaltschaft in Karlsruhe ein Ermittlungsverfahren gegen Sami A. ein. Es ging um den Verdacht, Sami A. könnte Mitglied einer ausländischen Terrorgruppe sein. Das Verfahren wurde 2007 eingestellt. Dennoch blieb Sami A. während der letzten zwölf Jahre im Visier der Sicherheitsdienste, ist jedoch niemals wegen einer staatsgefährdenden Straftat verurteilt worden. Daher gilt nun einmal auch für Sami A. die Unschuldsvermutung.

Über Sami A. wird berichtet, er sei Leibwächter von Osama bin Laden gewesen. Wer hat dies aufgebracht? David Schraven, Gründer und leitender Redakteur von „Correctiv“, sagte dem Deutschlandfunk Kultur am 16.07.2018:

„Wir haben damals bei der WAZ*, als ich noch bei der WAZ war, den Fall recherchiert. Wir hatten das aufgebracht, daß es halt Sami A. gab. Und wenn die sagen, es gibt keinen Beleg dafür, ob Sami A. Leibwächter war von Osama bin Laden oder nicht, er hat es zumindest selber erzählt, er hat damit Werbung gemacht, er hat sich damit in den Stadtpark gesetzt, in den Westpark in Bochum und hat junge Leute angeregt, doch auch in diesen Glaubenskrieg einzutreten und hat denen mit seinem Beispiel halt ein leuchtendes Bild gegeben und das rechtfertigt schon zu sagen, was willst du eigentlich hier? … Da finde ich eine Abschiebung schon sehr in Ordnung.“

* Westdeutsche Allgemeine Zeitung, Tageszeitung in Essen.

David Schraven behauptet, unter denen gewesen zu sein, die durch einen am 05.08.2012 in der WAZ veröffentlichen Artikel „aufbrachten, daß es einen Sami A. gab.“

Als der WAZ-Artikel erschien, leitete David Schraven das Ressort Recherche der WAZ. Wie die WAZ Sami A. damals darstellte, wirkt bis heute auf Sami A.

Sami A. sagt in einem Interview mit der BILD-Zeitung (Bundesausgabe) vom 17.07.2018 (Seite 2):

„Ich war nie Leibwächter von Osama bin Laden, das ist völlig frei erfunden.“

Die Chronik:

03.05.2018

Seehofer sagt während einer Pressekonferenz, auf der er seine Agenda als neuer Bundesminister des Inneren präsentiert, die Spirale von ständigen Gerichtsentscheidungen im Falle Sami A. müsse durchbrochen werden:

„Ich hab mich entschlossen, da selber sehr weiter dran zu bleiben an dem Fall, auch mich darum zu kümmern. Ich glaube seit 2007 läuft diese Angelegenheit, aber es gibt immer wieder Urteile dazwischen, auch Verbote der Abschiebung und trotzdem müssen wir versuchen, diese Spirale zu durchbrechen von ständigen Verfügungen und Gerichtsurteilen und wieder Verfügungen.“

Wie genau der neue Bundesminister diese rechtsstaatliche Spirale durchbrechen möchte, dazu äußert er sich nicht. Hat er einen maßgeschneiderten Masterplan für Sami A.?

Am 16.07.2018, drei Tage nachdem diese Spirale von ständigen Gerichtsentscheidungen aus Seehofers Sicht erfolgreich durchbrochen sein wird, sagt eine Sprecherin des Innenministerium über Seehofer,

„daß es ihm politisch wichtig war, daß eine Rückführung von Sami A. zeitnah erfolgt.“

06.05.2018

CSU-Landesgruppenchef Alexander Dobrindt der „Bild am Sonntag“:

„Es ist nicht akzeptabel, daß durch eine aggressive Anti-Abschiebe-Industrie bewusst die Bemühungen des Rechtsstaates sabotiert und eine weitere Gefährdung der Öffentlichkeit provoziert wird.“

09.05.2018

Seehofer sagt der Deutschen Presse-Agentur in Berlin zum Fall Sami A.:

„Mein Ziel ist es, die Abschiebung zu erreichen.“

18.06.2018

Nordrhein-Westfalen (NRW) ersucht das Bundespolizeipräsidium um Vorbereitung eines „Rückführungsfluges mit Sicherheitsbegleitung von Düsseldorf nach Enfidha (Tunesien)“ für Sami A. Die Bundespolizei teilt mit:

„Diesem Ersuchen wurde seitens des Bundespolizeipräsidiums entsprochen, ein entsprechender Linienflug wurde für den 12. Juli 2018 gebucht.“

27.06.2018

Seehofer sagt der Presse am Rande einer Sitzung des Innenausschusses des Deutschen Bundestages:

„Wir wollen keinen Asyltourismus in Europa.“

Seda Başay Yıldız (43), Anwältin von Sami A., teilt dem Verwaltungsgericht Gelsenkirchen mit, die Abschiebung ihres Mandanten sei geplant. Sie stellt einen Antrag auf Abschiebeschutz. Das Gericht verlangt vom Bundesamt für Migration und Flüchtlinge (BAMF), „unverzüglich mitzuteilen“, falls eine frühere Abschiebung geplant sein sollte.

Seehofer sagt in der Fernsehsendung „maischberger“ (ARD) zum Fall Sami A., daß man endlich handeln müsse!

„Ich habe die Fälle vom Leibwächter bin Laden, der seit elf Jahren hier ist und niemand hat sich um die Ausweisung gekümmert … und dann wächst bei mir die Überzeugung, da müssen wir handeln. Da bin ich Überzeugungstäter, nicht Taktiker.“

Sandra Maischberger widerspricht Seehofer nicht. Niemand anderes erwidert etwas, denn Seehofer ist der einzige Gast der Sendung. Kündigte sich in dieser Sendung bereits an, notfalls auch ein Gericht zu übergehen, um dem Image als Überzeugungstäter gerecht zu werden?

28.06.2018

Bundeskanzlerin Angela Merkel (CDU) sagt in ihrer Regierungserklärung im Deutschen Bundestag über Sami A., es könne nicht sein, daß er sich über Jahre in Deutschland aufhalte:

„Ich betone ausdrücklich: Der Bundesinnenminister hat, nachdem er sich in seinem neuen Amt die Situation angeschaut hat, richtigerweise die Punkte zusammengestellt, bei denen weiterer Handlungsbedarf besteht. Wenn ein so schreckliches, erschütterndes Ereignis wie der Mord an Susanna passiert und sich hinterher ergibt, daß Verwaltungsgerichtsverfahren über lange Zeit nicht stattgefunden haben, dann können wir uns mit einem solchen Zustand nicht abfinden – genauso wenig wie mit dem Zustand, daß sich Leibwächter von bin Laden über Jahre hier in Deutschland aufhalten, meine Damen und Herren.“

Die Protokollanten des Stenographischen Dienstes des Deutschen Bundestages notieren:

„Beifall bei der CDU/CSU und der SPD.“

Ist das noch dieselbe Bundeskanzlerin, die am 31.10.2015 vor Journalisten in Berlin sagte:

„Wir schaffen das.“

06.07.2018

Das Ministerium für Kinder, Familie, Flüchtlinge und Integration des Landes NRW in Düsseldorf beantragt über die „Zentrale Stelle für Flugabschiebungen“ in Bielefeld bei der Bundespolizei einen Charterflug zur Abschiebung des Sami A. zu organisieren. Die Bundespolizei bestätigt: Der Charterflug werde für den 13.07.2018 gebucht. Das Land Nordrhein-Westfalen legt die Flugroute fest von Düsseldorf nach Enfidha.

08.07.2018 

Ministerpräsident Markus Söder verteidigt die Benutzung des Wortes Asyltourismus in einem Interview mit der „Welt am Sonntag“:

„Die Bevölkerung versteht das Wort ‚Asyltourismus‘ leider sehr genau.“

09.07.2018

NRW bittet das Bundespolizeipräsidium um Durchführung des Abschiebefluges und um Übermittlung der Flugdaten. Das Bundespolizeipräsidium bestätigt NRW am gleichen Tag den angefragten Flug für den 13.07.2018.

Seit dem 09.07.2018 weiß auch das Auswärtige Amt von dem Deportationstermin am 13.07.2018. Das Auswärtige Amt soll die tunesischen Behörden informieren über des Sami A.’s Ankunft.

10.07.2018

Seehofer präsentiert in Berlin seinen „Masterplan Migration“, zu dem der Titel „Masterplan Abschottung“ viel besser passen würde. Innenminister Seehofer feixt mit schelmischem Lächeln über 69 Abschiebungen an seinem 69. Geburtstag:

„Ausgerechnet an meinem 69. Geburtstag sind 69 – das war von mir nicht so bestellt – Personen nach Afghanistan zurückgeführt worden. Das liegt weit über dem, was bisher üblich war.“

Seehofer reduziert die komplexen Einzelschicksale von 69 Flüchtlingen auf eine Zahl, die ihm lustig erscheint, weil sie genauso hoch ist die Zahl seiner Lebensjahre. Doch nicht alle der 69 Deportierten hatten wie Seehofer das Glück, das 69. Lebensjahr zu erreichen. Einer der 69 an Seehofers Geburtstag Deportierten starb bereits mit 23.

Der 23-jährige Jamal Nasser M. erhängte sich an Seehofers 69. Geburtstag in seinem Zimmer im Spinsar-Hotel zu Kabul, wohin er nach der Landung des Flugzeugs an Seehofers 69. Geburtstag gebracht wurde.

Jamal Nasser M., einer von Seehofers 69, lebte vor seiner Abschiebung acht Jahre lang in Deutschland, zuletzt in Hamburg.

Am 04.07.2018 wurde Seehofer 69, 69 Flüchtlinge wurden an diesem Tage nach Kabul deportiert. Jamal Nasser M. nahm sich aller Wahrscheinlichkeit nach bereits am Abend des 04.07.2018 das Leben. Dafür spricht zum einen das Ergebnis der rechtsmedizinischen Untersuchung und zum anderen die Zeugenaussagen der Mitbewohner von Jamal Nasser M. Die afghanischen Journalisten Qiam Noori und Mohammad Jawad berichtet am 12.07.2018 aus Kabul:

„Andere aus Deutschland abgeschobene Afghanen sagten im Spinsar-Hotel, wo die Internationale Organisation für Migration (IOM) Rückkehrern vorübergehend Unterschlupf bietet, der junge Mann habe sich möglicherweise schon am ersten Abend nach der Ankunft in Kabul am 4. Juli oder kurz darauf getötet. Im Hotel habe es schon seit mehreren Tagen stark gerochen. Sie hätten sich dann am Dienstag an der Rezeption beschwert.“

Besagter Dienstag war der 10.07.2018, der Tag, an dem die Leiche von Jamal Nasser M. gefunden wurde und der Tag, an dem Seehofer sich über die Abschiebung von Jamal Nasser M. und seiner 68 Schicksalsgefährten feixte.

Der 10. Juli darf nicht als der Tag in Erinnerung bleiben, an dem Seehofer seinen „Masterplan Migration“ in Berlin präsentierte, der 10. Juli soll der durch Deportation ums Leben gekommenen Flüchtlinge gedenken und  uns ermahnen, nicht über das Unglück anderer zu feixen!

Unter „Seehofers 69“ war auch ein Flüchtlinge namens Nasibullah S. (20), der nicht hätte abgeschoben werden dürfen. Das Fall von Nasibullah S. weist Parallelen auf zum Fall von Sami A. Auch Nasibullah S. befand sich wie Sami A. in einem noch nicht abgeschlossenen gerichtlichen Verfahren.

Die Deportationen von Nasibulah S. und von Sami A. verstoßen beide gegen den Artikel 19 Absatz 4 des Grundgesetzes, der effektiven Rechtsschutz gewährt. Im Gegensatz zu Sami A. erfährt Nasibulah S. Widergutmachung: Das BAMF will Nasibullah S. aus Afghanistan zurück an seinen Wohnort in Neubrandenburg bringen, sagte die Sprecherin des Bundesinnenministeriums, Eleonore Petermann, am 18.07.2018.

Man muß wissen, daß Sami A. und Nasibulah S. nicht die einzigen beiden Flüchtlinge sind, die entgegen der ausdrücklichen Anordnung eines Gerichts außer Landes geschafft wurden.

Im September 2017 wurde Haschmatullah F. (24) zu Unrecht aus Deutschland nach Bulgarien deportiert und von dort aus nach Afghanistan ausgeschafft. Das BAMF hatte seine Abschiebung durchfühlen lassen, obwohl dagegen am Verwaltungsgericht Sigmaringen ein Eilantrag anhängig war. Die Exekutive verstieß erneut gegen den effektiven Rechtsschutz nach Artikel 19 Absatz 4 des Grundgesetzes, das auch für Haschmatullah F. gilt, der am 03.06.2017 in Deutschland angekommen war. Am 08.06.2017 hatte er Asyl beantragt, weil er von den Taliban verfolgt werde.

Im Dezember 2017 mußte das Land Baden-Württemberg auf Anordnung des Verwaltungsgerichts Sigmaringen den Flüchtling Haschmatullah F. aus Afghanistan zurückholen. Sein Asylantrag wurde im Januar 2018 vom BAMF abgelehnt. Am 25.06.2018 erhielt Haschmatullah F. Flüchtlingsschutz durch einen Beschluss des Verwaltungsgerichts Sigmaringen.

Nach der Odyssey des Haschmatullah F. von Afghanistan nach Deutschland und von dort aus über Bulgarien wieder zurück nach Afghanistan und anschließend durch die Entscheidung des Verwaltungsgerichts Sigmaringen wieder zurück nach Deutschland, bitte ich Sie, sich wieder auf den Fall von Sami A. zu fokussieren:

11.07.2018

Laut einer Meldung der Deutschen Presse-Agentur vom 16.07.2018 erfuhr Seehofer am 11.07.2018 von Sami A.’s anstehender Deportation am 13.07.2018:

„Die Führungsebene inklusive Minister Horst Seehofer (CSU) wusste schon am Mittwoch von Abschiebeplänen für den Freitag.“

Annegret Korff, Sprecherin des Bundesministerium des Inneren, sagte am 16.07.2018 vor Journalisten in Berlin:

„… die Information über die Planungen der Bundespolizei … lagen auch dem Minister vor.“

Seehofer widerspricht am 18.07.2018 der Darstellung seiner Sprecherin vom 16.07.2018 und sagt vor Journalisten in Berlin, er habe nichts gewusst von einem Flug am 13.07.2018.

Das Verwaltungsgericht Gelsenkirchen erfährt, daß für den Abend des 12.07.2018 die Deportation des Sami A. nach Tunesien geplant sei. Das Gericht fordert das BAMF auf, eine Zusage abzugeben, bis zur Entscheidung über den Antrag nicht abzuschieben. Das Amt sagt dem Gericht, daß der Flug am 12.07.2018 storniert sei und verschweigt gegenüber dem Gericht die Buchung des Charterflugs für den 13.07.2018.

Michael Bertrams, der von 1994 bis 2013 Präsident des Verfassungsgerichtshofs für Nordrhein-Westfalen war und zuvor als Richter am Bundesverwaltungsgericht in Leipzig amtierte, macht die nordrhein-westfälische Landesregierung sagt in einem Interview mit  „Berliner Zeitung“ vom 20.07.2018 auf Seite 4:
 
 
„Es gab im zuständigen Flüchtlingsmianisterium in Düsseldorf ein problematisches Schweigen. Als das BAMF vom Ministerium wissen wollte, was es denn mit der für den 12. Juli anberaumten Abschiebung von Sami A. in einem Linienflug auf sich habe, lautete die Mitteilung: Der Termin ist storniert. Von dem zu diesem Zeitpunkt bereits georderten Charterflug einen Tag später war aber keine Rede. Ihn zu erwähnen, wäre aber zwingend erforderlich gewesen, um den Informationsstand des BAMF, das sich gegenüber dem Verwaltungsgericht ja zur Auskunft über den jeweiligen Sachstand verpflichtet hatte, nicht in eine komplette Schieflage zu bringen. Für jeden erkennbar hatte die Nachfrage beim Ministerium einzig und allein den Grund, etwas über eine geplante Abschiebung – egal zu welchem Termin – in Erfahrung zu bringen. … Eine solche Verschweigens- oder Informationslücke ist nicht hinnehmbar. Nur so war es rechtlich überhaupt möglich, A.ins Flugzeug zu setzen. Hätte das Gericht vom Flug am 13. Juli gewusst, wäre es fraglos im Eilverfahren noch am 12. Juli spätabends eingeschritten. Stellen Sie sich einmal die Situation vor: Wenn Sie eine Reise von Dienstag auf Mittwoch verschieben und gefragt werden, ob Sie denn nun am Dienstag fahren – sagen Sie dann auch bloß ’nein‘ und lassen den neuen Termin unerwähnt? Ich hielte das für gelinde formuliert seltsam, um nicht zu sagen, wahrhaftigkeitswidrig.“

12.07.2018

Um 19.20 Uhr verbietet das Verwaltungsgericht Gelsenkirchen die Abschiebung des Sami A. durch ein Urteil „im Namen des Volkes“. Doch weder das Bundesministerium des Inneren in Berlin, noch das BAMF in Nürnberg, noch das Bundespolizeipräsidium in Potsdam, noch die Ausländerbehörde in Bochum, noch die nordrhein-westfälische Landesregierung in Düsseldorf, noch das Auswärtige Amt in Berlin, die vom Deportationstermin am 13.07.2018 wußten respektive gewußt haben müssten, informieren das Gericht über die Deportation.

13.07.2018

Um 03.16 Uhr,nicht einmal acht Stunden nach dem Urteil des Verwaltungsgerichts Gelsenkirchen, schreiten die Entführer zur Tat. Die BILD-Zeitung ist mit Fotografen exklusiv vor Ort und begleitet den Konvoi zum Flugfeld. BILD berichtet am 13.07.2018:

„Mitten in der Nacht, um 3.16 Uhr am Freitagmorgen, öffnet sich das schwere Stahltor am Abschiebegefängnis im ostwestfälischen Büren. Ein unauffälliger VW Bulli verlässt das Gelände. Das einzige, was auffällt: Fahrer und Beifahrer tragen Sturmhauben. Davor und dahinter ein ziviles Polizeiauto mit aufgesetztem Blaulicht.

Hier geht der ehemalige Leibwächter* des Top-Terroristen Osama Bin Laden auf seine letzte Reise auf deutschem Boden. In gut drei Stunden wird Sami A. (42) im Flieger in sein Heimatland Tunesien starten. Das Ende eines jahrelangen Skandals.“

*Anmerkung von Martin Lejeune: korrekt müsste es heißen „mutmaßlicher ehemaliger Leibwächter“.

Wie man sich manchmal täuschen kann im Leben. Dies ist der Beginn des Skandals und nicht das Ende.

12.07.2018

Um 06.54 Uhr startet der Charterflug in einem zivilen Privatjet Typ Bombardier Challenger 604 D-AFAA der Firma „FAI Rent a Jet“ in Nürnberg. Weshalb charterte die Bundespolizei für die Deportation von Sami A. einen Privatjet von einer Firma in Nürnberg, obwohl der Abflug in Düsseldorf war? An Bord waren laut einem Bericht „Der Welt“ neben der Besatzung und Sami A. vier Bundespolizisten sowie ein Arzt. Jörg Radek, stellvertretender Vorsitzender der Polizeigewerkschaft GdP sagt:

„Der Vorteil von Charterflügen ist, daß keine anderen Passagiere an Bord sind. Wenn etwa in einem Flugzeug nach Tunesien auch viele Urlauber sind, kann das eine belastende Situation für die Mitreisenden und insbesondere die Beamten sein. Unabhängig von der Brisanz wie bei Sami A. kann man sich bei einem Charterflug besser auf die Abzuschiebenden konzentrieren.“

Die Kosten für den Charterflug belaufen sich auf fast 35.000 Euro. Für diesen Preis kann man sich dann aber auch besser auf den Abzuschiebenden konzentrieren. Ein Linienflug von Düsseldorf nach Enfidha kostet circa 150 Euro.

13.07.2018

Um 3.16 Uhr fährt ein ziviler VW-Bus (Farbe schwarz-metallic) Sami A. zum Flughafen in Düsseldorf. Weshalb benutzt die Landespolizei für den Transfer zum Flughafen ein ziviles Fahrzeug und keinen Streifenwagen? Weshalb entscheidet man sich für eine solche Aktion bei Nacht und Nebel? Und durch wen wurden die BILD-Reporter informiert über Ort und Zeit der Abfahrt in Büren?

Um 08.10 Uhr, eine Stunde und 16 Minuten später, erhält das BAMF per Fax die Entscheidung des Verwaltungsgerichts Gelsenkirchen über das Abschiebeverbot für Sami A.

Zu diesem Zeitpunkt hätte das BAMF noch die Möglichkeit wahrnehmen können, den Privatjet mit Sami A. an Bord zurück nach Deutschland fliegen zu lassen.

Um 08.15 Uhr erhält die für Sami A. zuständige Ausländerbehörde der Stadt Bochum per Fax die Entscheidung des Verwaltungsgerichts Gelsenkirchen über das Abschiebeverbot für Sami A. Die Ausländerbehörde der Stadt Bochum informiert die Regierung des Landes Nordrhein-Westfalen. Die Regierung hätte nach Auffassung des Verwaltungsgerichts die laufende Abschiebung noch in Tunesien abbrechen müssen. Das unterblieb. Ulrich Schellenberg, Präsident des Deutschen Anwaltsverein sagte der Deutschen Presse-Agentur in Düsseldorf:

„Ein Flugzeug, das die deutschen Hoheitszeichen trägt, unterliegt auch im tunesischen Luftraum der Bindung an deutsches Recht und Gesetz. In Kenntnis des Gerichtsbeschlusses hätte die Maschine wenigstens zurückfliegen müssen.“

Um 09.14 Uhr mitteleuropäischer Zeit übergibt die Bundespolizei Sami A. den tunesischen Behörden auf dem Flughafen Enfidha.

Um 17.15 Uhr ordnet das Verwaltungsgericht Gelsenkirchen an, Sami A. nach Deutschland zurückzuholen.

16.07.2018

Zwei Drittel der Bundesbürger (62 Prozent) sehen in Horst Seehofer einen einen politischen Störenfried, der als Innenminister nicht mehr tragbar sei, das ergab eine Forsa-Umfrage. Die Daten wurden am 10. und 11.07.2018 erhoben unter 1.011 Befragten, die gefragt wurden:

„Ist Horst Seehofer eher ein aufrechter Politiker oder ein Störenfried?“

Ministerpräsident Armin Laschet auf dem Wege zur CDU-Präsidiumssitzung im Konrad-Adenauer-Haus in Berlin über Sami A.:

„Im Ergebnis können wir froh sein, daß der Gefährder nicht mehr in Deutschland ist.“

Sami A. wurde nie von einem Gericht als „Gefährder“ verurteilt. Die Einstufung als „Gefährder“ ist ein Vorgang der Exekutive, die mit der Deportation die Entscheidung der Judikative mißachtete.

Auf einer Seite des Karte-Vereins Budokan Bochum e.V. ist eine Fotografie veröffentlicht, welche die Tochter von Sami A. abbildet (fünfte Person von rechts in der ersten Reihe). Ihr Vater legt seinen rechten Arm auf ihre Schulter. Die Tochter trägt kein Kopftuch und steht neben Jungs. Eine gut integrierte Bochumerin, die sich in einem Sportverein engagiert.

Der beim Amtsgericht Bochum eingetragene Verein mit der Registernummer VR 3224 bezweckt, „die Kampfkunst Karate mit den Gesundheitsaspekten der traditionellen chinesischen Medizin zu verbinden“. (Quelle: Seite von Budokan Bochum e.V.).

Welcher gewaltbereite Extremist aus dem salafistischen respektive dschiihadistischen Spektrum (vulgo Gefährder) schickt seine Tochter zum Karate? Wohlgemerkt unverschleiert und ohne Kopftuch. Noch dazu gemeinsam mit Jungs. Das passt nicht zu dem Bild eines Gefährders, das Massenmedien von Sami A. erzeugen.

Durch die Deportation von Sami A. wurden dessen vier minderjährige Kinder (4, 8, 9 und 11 Jahre) aus der Obhut des Vaters entrißen. Sami A. hat das Sorgerecht für seine vier in Bochum lebenden Kinder. Gemäß UN-Kinderrechtskonvention haben die vier Kinder von Sami A. ein Recht auf die Fürsorge ihres Vaters.

Die Entführung des Sami A. stellt eine Missachtung der Unabhängigkeit der Justiz durch die Regierung in Deutschland dar und verstößt gegen den Artikel 19 Absatz 4 Grundgesetz, der Klägern vor Gericht effektiven Rechtsschutz gewährt. Deutschland darf seine Moral nicht aufgeben und den USA nacheifern, die Menschen entführen. Der Rechtsstaat muss auch für sogenannte „Gefährder“ gelten.

Die Verwaltungsrichtervereinigung des Landes Nordrhein-Westfalen hat am 16.07.2018 eine Pressemitteilung herausgegeben. Präsident der Vereinigung ist Markus Lehmler, Vizepräsident des Verwaltungsgerichts Aachen. Die Pressemitteilung lautet:

„Behördenversagen im Fall von Sami A.

Die Verwaltungsrichtervereinigung NRW hat mit Befremden die Missachtung rechtsstaatlicher Grundsätze durch die für die Abschiebung des als Gefährder eingestuften Tunesiers Sami A. zuständigen Behörden zur Kenntnis genommen.

Der offenkundige Verstoß gegen die verwaltungsgerichtlichen Entscheidungen der Kolleginnen und Kollegen aus Gelsenkirchen konterkariert die seit Jahren laufenden Bemühungen um mehr Akzeptanz für gerichtliche Entscheidungen – auch wenn diese
nicht jedem sofort verständlich erscheinen.
Wenn sich deutsche Verwaltungsbehörden nicht dem Grundgesetz entsprechend an Recht und Gesetz halten, ist der Rechtsstaat in Gefahr. Die Bundesjustizministerin hat zu Recht betont, ‚was unabhängige Gerichte entscheiden, muss gelten‘. Dem gibt es nichts hinzuzufügen.“

 Präsident des Deutschen Anwalt­vereins (DAV), Rechts­anwalt und Notar Ulrich Schel­lenberg, gibt eine Erklärung ab:

„Ich begrüße die klare Stellung­nahme der Bundes­kanz­lerin, wonach gelten muss, was unabhängige Gerichte entscheiden. Es ist aber bedau­erlich, daß es einer solchen Feststellung der Kanzlerin überhaupt bedurfte. Es handelt sich um ein essen­ti­elles Grund­prinzip unserer Staats­ordnung, das für jeden selbst­verständlich sein sollte, der in unserem Land Verant­wortung übernimmt.

Es wird immer klarer, daß das BAMF im gericht­lichen Verfahren vor dem Verwal­tungs­ge­richt Gelsen­kirchen getäuscht hat. Das BAMF wusste, daß eine gericht­liche Entscheidung unmit­telbar bevor­steht, und hätte deshalb vor dieser Entscheidung keine unumkehr­baren Fakten zu Lasten von Sami A. schaffen dürfen.

Das BAMF ist wie jede andere Behörde verpflichtet, das Gericht umfassend und vollständig zu unter­richten. Hiergegen hat das BAMF ganz offen­sichtlich verstoßen.

Der Deutsche Anwalt­verein fordert Hans-Eckard Sommer, den Präsidenten des BAMF, auf, unverzüglich zu erklären, wann und in welcher Form sein Haus über den bevor­ste­henden Flug am Morgen des 13. Juli 2018 infor­miert wurde und weshalb diese Infor­ma­tionen nicht sofort dem Gericht mitge­teilt wurden. Sollte das BAMF vom Flug am 13. Juli 2018 selbst völlig überrascht worden sein, obwohl sowohl das Bundesin­nen­mi­nis­terium als vorge­setzte Behörde als auch die Bundes­po­lizei bereits Tage zuvor Kenntnis von diesem Flugtermin hatten, stellt sich die Frage, ob ein schweres Organi­sa­ti­ons­ver­schulden vorliegt. In diesem Falle ist zu fragen, ob das BAMF unter seiner neuen Führung den gestellten Aufgaben gerecht werden kann.

Die Tatsache, daß Sami A. als ‚Gefährder‘ einge­stuft ist, ändert an dieser Sachlage überhaupt nichts. Soweit von Sami A. eine Gefahr ausgehen sollte, fällt dies in den Aufga­ben­be­reich der Sicher­heitsbehörden, die im Rahmen beste­hender Gesetze damit umzugehen haben. Es recht­fertigt unter gar keinen Umständen, jemandem seinen gericht­lichen Rechts­schutz zu nehmen und ihn der Gefahr der Folter auszu­setzen. Jeder Mensch ist vor dem Gesetz gleich. Das ist das Grund­prinzip unseres Rechts­staates.“

20.07.2018

Die Tagesordnung der gemeinsamen 19. Sitzung des Rechtsausschusses und 17. Sitzung des Integrationsausschusses des Landtags in NRW lautet:

„Wahrung der Unabhängigkeit der Justiz – Wurde das Verwaltungsgericht Gelsenkirchen und die Öffentlichkeit im Fall Sami A. bewusst getäuscht?“

Joachim Stamp (FDP), Minister für Kinder, Familie, Flüchtlinge und Integration des Landes NRW, berichtete in der Sitzung über die Rückführung von Sami A. nach Tunesien am 13. Juli 2018. Der Minister äußerte sich zu Vorwürfen des Verwaltungsgerichts Gelsenkirchen, nach dem die Abschiebung „grob rechtswidrig“ gewesen sei.

Stamp sagte in der Sondersitzung, von Sami A. sei eine „akute, erhebliche Gefahr“ für die öffentliche Sicherheit in Deutschland ausgegangen. Die rechtlichen Voraussetzungen für der Abschiebung am 13. Juli 2018 hätten „vollständig“ vorgelegen. Sami A., der in Afghanistan eine militärische Ausbildung erhalten und zur Leibgarde von Osama Bin Laden gehört habe, sei in Deutschland zum Zeitpunkt der Abschiebung „vollziehbar ausreisepflichtig“ gewesen. Daher hätten die Behörden „rechtskonform“ gehandelt, zumal ihm in Tunesien die Gefahr von Folter nicht drohe. Die Abschiebung sei bewusst

„zügig und diskret“

durchgeführt worden, als Minister trage er dafür „die volle Verantwortung“, sagte Stamp.

Auch Peter Biesenbach (CDU), Minister der Justiz des Landes Nordrhein-Westfalen, äußerte sich zu den Vorkommnissen. Biesenbach sagte, in Deutschland müsse verbindlich gelten, „was unabhängige Gerichte entscheiden“. Zum Schutz des Rechtsstaates gehöre es aber auch, konsequent gegen Gefährder vorzugehen. „Hier machen wir keine Kompromisse.“ Ob die Ausweisung von Sami A. rechtmäßig gewesen sei oder nicht, werde derzeit bei Verfahren vor dem Oberverwaltungsgericht des Landes Nordrhein-Westfalen in Münster sowie des Verwaltungsgerichts Gelsenkirchen geprüft. „Die Richter werden nach Recht und Gesetz entscheiden.“ Zu den laufenden Verfahren wollte Biesenbach keine weitere Stellung nehmen, dies sei nicht die Aufgabe eines Justizministers.

Stefan Engstfeld (Grüne) kritisierte, die Landesregierung habe dem Verwaltungsgericht Gelsenkirchen entscheidende Informationen zum Zeitpunkt der Abschiebung am 13. Juli 2018 vorenthalten. Wäre das Gericht darüber informiert gewesen wäre, hätte es frühzeitig einen unanfechtbaren Beschluss gefasst, dass Sami A. vorerst nicht nach Tunesien abgeschoben werden dürfe. Ein solcher Beschluss habe das zuständige Ministerium erreicht, als der Flieger mit Sami A. an Bord am 13. Juli noch in der Luft gewesen sei. Der Gerichtsbeschluss sei zu diesem Zeitpunkt rechtwirksam gewesen, aber übergangen worden.

Gefährder müssten „ohne Rechtsbruch“ und „rechtssicher“ aus Deutschland ausgewiesen werden, sagte Sven Wolf (SPD). Durch ihr eigenmächtiges Vorgehen, das an „Selbstjustiz“ erinnere, habe die Landesregierung „hinter dem Rücken der Richter“ agiert und die Grenzen der Gewaltenteilung missachtet. Das habe zu einer „tiefen und fundamentalen Vertrauenskrise“ in Regierungshandeln geführt. Das Verwaltungsgericht Gelsenkirchen habe im Vorfeld klar zu verstehen gegeben, dass Sami A. nur abgeschoben werden könne, wenn das Gericht einen entsprechenden Beschluss fasse.

Gregor Golland (CDU) entgegnete, dass der Beschluss des Verwaltungsgerichts im zuständigen Ministerium erst eingetroffen sei, als sich Sami A. nicht mehr auf deutschem Hoheitsgebiet befunden habe. Das Vorgehen der Landesregierung sei „sauber“ und somit rechtskonform gewesen sei, das habe der Bericht von Minister Stamp im Detail verdeutlicht. Die Anwälte von Sami A. hätten es im Vorfeld versäumt, alle rechtlichen Mittel auszuschöpfen, um die Abschiebung zu verhindern. Es habe daher keinen rechtsverbindlichen Grund gegeben, die Abschiebung nicht durchzuführen. Die Opposition betreibe mit dem Fall Sami A. eine „Skandalisierung“ und wolle daraus politisches Kapital schlagen.

Seit mehr als zehn Jahren habe Sami A. als Gefährder in Deutschland gelebt, sagte Thomas Röckemann (AfD). Seit 2015 habe ein rechtskräftiges Gerichtsurteil für seine Abschiebung vorgelegen. Vor diesem Hintergrund stelle sich die Frage, warum es so lange gedauert habe, bis er nach Tunesien ausgeflogen worden sei. Dass die Abschiebung in der vergangenen Woche erfolgreich verlaufen sei, sei sehr zu begrüßen. „Hut ab“, sagte Röckemann. Bemerkenswert sei zudem die Aussage von Minister Stamp, er trage die volle Verantwortung für die Abschiebung. An dieser Aussage müsse er sich in Zukunft messen lassen.

22.07.2018

Die „Frankfurter Allgemeine Sonntagszeitung“ berichtet, die eilige Deportation des Sami A.  hätte bis zuletzt gestoppt werden können:

„Bis zur Übergabe an die tunesischen Behörden wäre dies möglich gewesen“,

zitiert die Zeitung die Bundespolizei, die Sami A. mit einer Chartermaschine von Düsseldorf nach Tunesien brachte. Der zuständige NRW-Flüchtlingsminister Stamp hatte am Freitag erklärt, sein Haus sei 15 Minuten vor der Landung der Maschine in Tunesien von der neuen Gerichtsentscheidung informiert worden. „Ich bin davon ausgegangen, daß es keine Möglichkeit mehr gibt, das aufzuhalten.“ Der Zeitung zufolge hätte aber der Pilot per Funk aufgefordert werden können, aufzutanken und mit Sami A. zurückzufliegen.

Am 14.07.2018 veröffentlichte die Bundespolizei ihre Chronologie:

„Aufgrund einer umfangreichen aktuellen Medienberichterstattung zum oben genannten Thema und entsprechender Nachfragen bezieht das Bundespolizeipräsidium, sofern im Einzelnen die Zuständigkeit der Bundespolizei berührt war oder ist, wie folgt Stellung:

Am 18. Juni 2018 ging im Bundespolizeipräsidium ein Ersuchen des Landes Nordrhein-Westfalen zwecks Vorbereitung eines Rückführungsfluges mit Sicherheitsbegleitung von Düsseldorf nach Enfidha (Tunesien) ein. Diesem Ersuchen wurde seitens des Bundespolizeipräsidiums entsprochen, ein entsprechender Linienflug wurde für den 12. Juli 2018 gebucht. Da Widerstandshandlungen an Bord des Flugzeuges durch den Rückzuführenden nicht ausgeschlossen werden konnten, wurde dieser Linienflug auf Bitte des Landes Nordrhein-Westfalen am 29. Juni 2018 storniert.

Am 6. Juli 2018 ging ein erneutes Ersuchen des Landes Nordrhein-Westfalen zwecks Vorbereitung eines Einzelcharters von Düsseldorf nach Enfidha im Bundespolizeipräsidium ein. In der Folge dieser Vorabfrage bat das Land Nordrhein-Westfalen am 9. Juli 2018 das Bundespolizeipräsidium um Durchführung des Abschiebefluges und um Übermittlung der Flugdaten. Das Bundespolizeipräsidium bestätigte dem Land Nordrhein-Westfalen am gleichen Tag den angefragten Flug für den 13. Juli 2018.

Am 13. Juli 2018 haben Kräfte der Bundespolizei die abzuschiebende Person um 5:05 Uhr am Flughafen Düsseldorf von Beamten des Landes Nordrhein-Westfalen übernommen. Um 6:34 Uhr waren die Türen des Luftfahrzeugs geschlossen, um 6:54 Uhr startete der Flug.

Um 09:08 Uhr deutscher Zeit ist das Flugzeug auf dem Flughafen Enfidha gelandet. Um 09:14 Uhr haben die eingesetzten Begleitkräfte der Bundespolizei die Person an die zuständigen tunesischen Behörden übergeben. Um 9:36 Uhr hat die Maschine den Flughafen wieder Richtung Deutschland verlassen. Die Information über einen Beschluss des Verwaltungsgerichts Gelsenkirchen, der den Vollzug der Abschiebung bis auf Weiteres untersagt, hat die Bundespolizei erst nach 10:00 Uhr über Online-Medien erreicht.“

Bereits am 13.07.2018 veröffentlichte das Verwaltungsgericht Gelsenkirchen seine Chronologie:

„Der Präsident des Verwaltungsgerichts Gelsenkirchen sieht sich aufgrund der zahlreichen Nachfragen zu dem Ablauf der Verfahren im vorläufigen Rechtsschutz gegen die Abschiebung eines tunesischen Staatsangehörigen nach Tunesien, gehalten diesen Ablauf nachfolgend darzustellen:

Beim Verwaltungsgericht Gelsenkirchen wurden seit Ende Juni von dem Antragsteller drei Verfahren betrieben. Zwei gegen die Ausländerbehörde der Stadt Bochum gerichtete Verfahren, nämlich um die Androhung der Abschiebung (Aktenzeichen 8 L 1240/18) und ein Antrag gemäß § 123 Absatz 1 VwGO auf Abschiebungsschutz bis zur Entscheidung im Verfahren 7a L 1200/18.A (8 L 1304/18) sowie ein gegen das BAMF gerichtetes Verfahren gegen den Widerruf der Feststellung von Abschiebungsverboten (7a L 1200/18.A).
Der Umfang der Verfahrensakten beläuft sich aufgrund der zahlreichen vorherigen Verfahren auf ungefähr 1.500 Seiten.

Ablauf des Verfahrens 7a L 1200/18:

27.06.2018 Eingang des Antrags gegen das BAMF und Zustellung an das BAMF mit dem Zusatz des Vorsitzenden:
„Die Bevollmächtigte des Antragstellers hat mitgeteilt, daß die Abschiebung für den 29.08.2018 geplant sei. Es wird gebeten, dem Gericht unverzüglich mitzuteilen, falls sich in dieser Hinsicht neuere Erkenntnisse, insb. hinsichtlich eines früheren Abschiebungstermins, ergeben.“

03.07.2018 telefonische Ankündigung des BAMF, auf den Antrag erwidern zu wollen, erneuter Hinweis des Vorsitzenden der 7. Kammer auf den oben dargestellten Zusatz.

05.07.2018 Übertragung des Verfahrens 7a L 1200/18.A von der gesetzlich zunächst zuständigen Einzelrichterin auf die Kammer aufgrund der grundsätzlichen Bedeutung der zu entscheidenden Rechtsfragen.

09.07.2018 um 15:11 Uhr im Verfahren 7a L 1200/18.A Eingang der Antragsbegründung der Antragstellerbevollmächtigten Antragserweiterung.

10.07.2018 Fristsetzung des Vorsitzenden zur Stellungnahme des BAMF bis Donnerstag, 12. Juli 2018, 12.00 Uhr.

11.07.2018 telefonischer Hinweis des Gerichts an das BAMF, daß sich aus dem beigezogenen Verwaltungsvorgang der Ausländerbehörde ergebe, daß für den Abend des 12.07.2018 eine Rückführung nach Tunesien geplant sei. Die Prozesssachbearbeiterin des BAMF erklärt, ihr habe die Ausländerpersonalakte nicht vorgelegen.
Das Gericht fordert das BAMF auf, eine Zusage abzugeben, bis zur Entscheidung über den Antrag nicht abzuschieben („Stillhaltezusage“), anderenfalls behalte die Kammer sich vor, einen „vorläufigen“ Beschluss nach § 80 Absatz 5 VwGO („Hängebeschluss“ zu fassen, um bis zur Entscheidung über den Antrag keine vollendeten Tatsachen entstehen zu lassen.

12.07.2018 Das BAMF übermittelt am Vormittag die Antragserwiderung und teilt darin mit:
„Hierauf hat sich die Beklagte telefonisch bei dem zuständigen Referat des Ministeriums für Kinder und Familie und Flüchtlinge des Landes NRW zu der von der Berichterstatterin in der Ausländerakte erwähnten für den 12.07.2018 angesetzte Rückführung erkundigt. Von dort wurde mitgeteilt, daß die in der Akte der Ausländerbehörde aufgeführte (vorsorgliche) Flugbuchung für den 12.07.2018 storniert wurde. Ferner geht die Beklagte davon aus, daß der Kläger auch nicht rechtsschutzlos gestellt ist, da ihm im Fall einer bevorstehenden Rückführung ein gesonderter Antrag auf Eilrechtsschutz (§ 123 Absatz 1 VwGO) bezüglich möglicher Vollstreckungsmaßnahmen offen steht. Daher wird die vorgeschlagene Stillhaltezusage nicht für erforderlich erachtet.“

Abschließende Beratung der Kammer nach Eingang der Antragserwiderung:
Aufgrund der Erklärung des BAMF „Kein Hängebeschluss“, sondern vollständige Entscheidung nach § 80 Absatz 5  VwGO mit ausführlicher Begründung (22 Seiten) der komplexen Sach- und Rechtslage.
Der begründete und unterschriebene Beschluss wird um 19.20 Uhr auf der Geschäftsstelle hinterlegt.

13.07.2018 Übermittlung des Beschlusses an Beteiligte um:

08:09 Uhr per Computerfax an die Antragstellerbevollmächtigte

08:10 Uhr per Computerfax an das BAMF

08:14 Uhr Eingang des zusätzlich übermittelten elektronischen Dokuments im elektronischen Gerichts- und Verwaltungspostfach (EGVP) des BAMF

08:15 Uhr per Computerfax an die Ausländerbehörde

Ablauf des Verfahrens 8 L 1240/18:

03.07.2018 Eingang des Antrags bei Gericht

11.07.2018 Beschluss der Kammer (Ablehnung des Antrags)

15:10 Uhr: Übermittlung des Beschlusses an die Ausländerbehörde Bochum

Ablauf des Verfahrens 8 L 1304/18:

12.07.2018, 17:37 Uhr Eingang des Antrags bei Gericht, ohne vorherige telefonische Ankündigung durch die Bevollmächtigte.

13.07.2018 circa 08:45 Uhr Ausländerbehörde vom Eingang des Verfahrens unterrichtet; Stellungnahme: „Dazu kann nichts gesagt werden“.

circa 09:25 Uhr Telefonat der Vorsitzenden mit Ausländerbehörde Bochum: Hinweis, daß der Antragsteller – sollte er sich derzeit noch im Transitbereich des Zielflughafens befinden – zurückzufliegen sei; Antwort: „Derzeit keine Kenntnis von den Flugdaten“.
Hängebeschluss der Kammer

09:34 Uhr Telefonische Mitteilung über den Erlass eines Hängebeschlusses an die Ausländerbehörde Bochum durch den Berichterstatter

09:39 Uhr Übermittlung per Telefax an Ausländerbehörde Bochum

Aus dem dargestellten Ablauf der drei Verfahren ergibt sich, daß es keine vom Verwaltungsgericht Gelsenkirchen zu vertretenden Verfahrensverzögerungen gegeben hat.

Insbesondere musste das Gericht angesichts des Verhaltens des BAMF und der Ausländerbehörde davon ausgehen, daß die Übermittlung des Beschlusses im Verfahren 7a L 1200/18.A am Morgen des Freitag, 13. Juli 2018, rechtzeitig sein würde.“

Bernhard Fessler
Präsident des Verwaltungsgerichts

Am 14.07.2018 äußert sich der Abgeordnete Sven Wolf in einem sozialen Medium zu einer Anzeige, die er gegen Seehofer erstattet habe:

„Warum ich Anzeige gegen Horst Seehofer erstattet habe.

Eines ist ganz klar: Sami A. gehört nicht nach Deutschland! Niemand möchte ihn ‚zurück nach Deutschland holen‘. In unserem Rechtsstaat gilt grundsätzlich, daß

Gefährder Deutschland verlassen müssen. Das ist richtig so.

Abschiebungen müssen rechtsstaatlich sicher erfolgen. Das ganze Hin und Her zeigt, wie sehr Horst Seehofer mit seinem Alleingang uns allen geschadet hat. Er kann nicht einfach im Alleingang Entscheidungen unserer Gerichte missachten. Auch dann nicht, wenn er glaubt, sich damit politisch profilieren zu können.

In Wirklichkeit ist es doch so: Horst Seehofer hat als Innenminister politisch nichts erreicht. Und jetzt steht der Verdacht im Raum, daß er Gesetze gebrochen hat, um wenigstens ein einziges Mal zu zeigen, daß er etwas erreichen kann.

Aber wo kommen wir denn hin, wenn ein Bundesinnenminister einfach Gerichte ignoriert? Wie will Horst Seehofer denn für Recht und Ordnung sorgen, wenn er sich selbst nicht an Gesetze hält?

Es mag politisch für den ein oder anderen gerade attraktiv sein, so zu tun, als würde man ‚hart durchgreifen‘. Wir dürfen aber unter keinen Umständen zulassen, daß der Rechtsstaat eingeschränkt oder mit ihm getrickst wird. Der Rechtsstaat schützt uns alle. Aber nur, wenn er auch für alle gilt. Für dieses Ziel habe ich die Anzeige erstattet.“

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