«Multiples Versagen im Ahrtal auf allen Ebenen»

Published On: 5. Oktober 2021

Die schweren Hochwasser, die das Tiefdruckgebiet Bernd Mitte Juli 2021 verursachte, kosteten mindesten 242 Menschen das Leben. Zahlreiche Vermisste könnten sich noch in den Trümmern befinden. Staatsanwaltschaft und Parlamente ermitteln derzeit auf Hochtouren, wer für die Opfer verantwortlich ist.

Die Flut köpfte das Jesuskind. Umgerissene Grabsteine, angeschwemmte Autos, Unmengen an Schlamm und Dreck: der Friedhof am Ahrtor in Bad Neuenahr-Ahrweiler ist noch immer stark zerstört.

Der Parlamentarische Untersuchungsausschuss des Landtages von Nordrhein-Westfalen (NRW) zur Aufarbeitung der Hochwasserkatastrophe in NRW soll am 08.10.2021 zu seiner konstituierenden Sitzung zusammenkommen. Diese sei nach der Plenarsitzung geplant, sagt eine Sprecherin der FDP-Landtagsfraktion am 05.10.2021. Für den Vorsitz empfiehlt die FDP-Fraktion im Landtag von NRW ihren Abgeordneten Ralf Witzel. Turnusgemäß bekommt die FDP bei diesem Untersuchungsausschuss den Vorsitz. Die Ausschussmitglieder aus allen fünf Fraktionen sollen am 06.10.2021 vom Landtag gewählt werden.

In seiner konstituierende Sitzung am 01.10.2021 hat der «Untersuchungsausschuss Flutkatastrophe» des Landtages Rheinland-Pfalz von verantwortlichen Ministerien, Behörden und anderen staatlichen Stellen die Herausgabe relevanter Dokumente gefordert. In einem ersten Schritt sollen dem Gremium bis zum 15.11.2021 alle «physischen und elektronischen Akten» sowie die digitale Kommunikation zur Flutnacht vorgelegt werden, sagt der Ausschussvorsitzende Martin Haller (SPD).

Die Aufforderung zur Herausgabe der Unterlagen richte sich an alle Stellen, «soweit eine Rechtsaufsicht des Landes» bestehe, so Haller. Bei Akten unter Bundesaufsicht werde der Bund gegebenenfalls um Amtshilfe gebeten. Haller fordert auch die Offenlegung der Handy-Kommunikation der Amtsträger, «alles, was den Untersuchungsgegenstand erhellen kann». Der Ausschuss geht auf einen Antrag der CDU-Opposition zurück.

Gegen den CDU-Landrat Dr. Jürgen Pföhler ermittelt die Staatsanwaltschaft Koblenz wegen des Verdachts der fahrlässigen Tötung und Körperverletzung durch Unterlassen. Mehr als 290 Hinweise zur tödlichen Sturzflut im Ahrtal hat Oberstaatsanwalt Dietmar Moll bislang bekommen. Sowohl Berichte als auch Fotos und Videos sind beim eigens eingerichteten E-Mail-Postfach unwetter.stako@genstako.jm.rlp.de eingegangen. Das Postfach ist auch weiterhin für Hinweise geöffnet.

Der leitende Oberstaatsanwalt Harald Kruse sagt, Pföhler sei nach der Flut «überwiegend» nicht im Krisenstab gewesen. «Ich weiß nicht, wo der Landrat war», so Kruse. Während Tief Bernd wütete, habe der Landrat im Luxus-Gasthaus Sanct Peter diniert, sagt ein Zeuge.

Der Landrat habe die Einsatzleitung des Krisenstabs am Tage der Flut an Michael Zimmermann, den Brand- und Katastrophenschutz-Inspekteur des Kreises, übergeben, so ein Insider. «Am 14. Juli wurde erst um 23.09 Uhr der Katastrophenalarm ausgelöst, mindestens fünf Stunden zu spät», sagt der Insider. Um 17 Uhr sei der Pegel der Ahr um mehrere Meter gestiegen und bereits die ersten Menschen ertrunken.

Offenbar durfte Pföhler die Verantwortung am Flutabend nicht delegieren. Einer Dienstvorschrift zufolge sei «bei weiträumigen und länger andauernden Großschadenereignissen oder in Katastrophenfällen die unmittelbare Leitung durch die politisch-gesamtverantwortliche Instanz nötig». Die in diesem Falle zuständige Instanz ist der Landrat.

Auch die für den Katastrophenschutz zuständige Aufsichts- und Dienstleistungsdirektion (ADD) muss sich für Versäumnisse rechtfertigen. ADD-Präsident Thomas Linnertz entgegnet, er müsse sich auch während der Katastrophe nach der «Dienstvorschrift» richten. Wenn dadurch Menschen sterben, ist man fein raus. Immerhin hat man Dienst nach Vorschrift gemacht. Da kann einem keiner was.

Oberst a. D. Ralph D. Thiele, CEO von StratByrd Consulting, beklagt die miserable Vorbereitung auf die Katastrophe im Ahrtal und «multiples Versagen im Ahrtal auf allen Ebenen». Der Innenminister von Rheinland-Pfalz Roger Lewentz (SPD) z. B. habe den Krisenstab in der Flutnacht in der kritischen Phase mehr bei der Arbeit gestört, statt ihn zu unterstützen. Zudem sei Lewentz nicht gut auf den Ernst der Lage vorbereitet gewesen, so Thiele.

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6 Comments

  1. Thomas Kamprath 5. Oktober 2021 at 23:06 - Reply

    Deutschland wurde im Vorfeld präzise aus dem Ausland gewarnt.
    Nur die Menschen in den betroffenen Gebieten nicht!

    Die ersten Zeichen der Hochwasserkatastrophe in Deutschland wurden bereits neun Tage zuvor von Satelliten erfasst.
    Vier Tage vor den Fluten warnte das Europäische Hochwasser-Warnsystem (Efas) die Regierungen der Bundesrepublik und Belgiens vor Hochwasser an Rhein und Meuse.

    24 Stunden vorher wurde den deutschen Stellen nahezu präzise vorhergesagt, welche Regionen von Hochwasser betroffen sein würden, darunter Gebiete an der Ahr, wo später mehr als 140 Menschen starben.

    Und diese unfassbar hilflosen inkompetenten Totalversager haben nicht das Geringste unternommen?

    Auch das nordrhein-westfälische Innenministeriums räumt inzwischen ein, dass die Überflutungen nicht überraschend kamen.

  2. […] Wenn ich mir vorstelle, dass Menschenleben hätten gerettet, unendliches Leid hätte vermieden werden können, wenn man hier ohne Verzug reagiert hätte, wird mir ganz anders. Ich denke noch oft an die Schilderung der Anwohnerin in Dernau, die stundenlang in Todesangst mit ihrer Familie auf dem Dach ihres Hauses auf Rettung wartete. Grauenvoll. Wie kommt es, dass auch im weiteren Verlauf fast keine Hilfe geleistet wurde? Ich begreife es nicht. https://www.martinlejeune.de/multiples-versagen-im-ahrtal-auf-allen-ebenen/ […]

  3. Susanne Wahl 6. Oktober 2021 at 06:55 - Reply

    Vielen Dank für die umfassende, sachliche und kompetente Recherche von Journalist Martin Lejeune. Vielen Dank für die informationsreiche Zusammenfassung der bevorstehenden Abläufe einer Aufarbeitung durch einen Untersuchungsausschuss. Ich schätze Martin Lejeune sehr.
    Auf seine journalistische und dokumentaristische Arbeit kann ich mich verlassen.
    Es ist traurig, dass so viele Menschen leiden und sterben mussten. Und dass es so vielen Menschen immer noch schlecht geht. Wenn sich bewahrheitet, dass sie viel zu spät gewarnt wurden, müssen die dafür verantwortlichen Personen dafür grad stehen. Sie dürfen sich nicht rausreden, rausmogeln oder die eigenen Versäumnisse mit fatalen Folgen auf andere Personen abwälzen.

  4. Ingrid.rothenhagen 7. Oktober 2021 at 08:16 - Reply

    Ist das nicht ein weiteres Mosaik im Abbauplan Deutschland? Wir haben immer weniger kompetente vorausschauende Verantwortliche. Es liegt soviel im Argen und es wird noch schlimmer werden. Politiker ohne Beruf, ohne Bildung mit dem unbedingten Drang mittels einer Position in Macht zu kommen ohne Verantwortung

  5. Fritz Gerhard 13. Oktober 2021 at 11:35 - Reply

    Ein solcher Unterlassungsverbrechen gehört restlos aufgearbeitet. Es ist kaum vorstellbar, daß das alles Zufallsentwicklungen waren.

  6. Roland Fritz 16. November 2021 at 22:36 - Reply

    Lieber Martin,

    wo finde ich denn Dein Video von dem Seitental der Ahr, in dem das Wasser sichtbar bid in einige Meter Höhe gestanden hat ?
    Hast Du bei Viviane angekündigt zu zeigen / veröffentlichen.

    Danke Dir herzlich.
    Roland Fritz

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