Und täglich schwänzt der Angeklagte
Am 05.10.2022 erschien Anselm Lenz nicht zu seinem Termin am Amtsgericht Tiergarten. Während der vergangenen Sitzung am 06.04.2022 urlaubte Lenz in Ägypten. Heute sei er an Covid erkrankt.
In der Strafsache geht es um die Titelseite der Ausgabe 18 des «Demokratischen Widerstands» vom 05.09.2020. Dort heißt es: «Kokainsüchtiger Bundesgesundheitsminister Jens Spahn kaufte sich kürzlich Millionenvilla in Italien». Lenz wird von der Staatsanwaltschaft zur Last gelegt, diese Ausgabe der Zeitung mit drei weiteren gesondert verfolgten Mittätern herausgegeben zu haben, auf dessen Titelblatt der damalige Bundesgesundheitsminister wahrheitswidrig als «kokainsüchtig» verunglimpft worden sei. Tatsächlich konsumieren mir persönlich bekannte DW-Mitarbeiter Kokain.
- Gegen Lenz erging nach Nichterscheinen des Angeklagten in der Sitzung vom 06.04.2022 ein Strafbefehl (120 Tagessätze zu je 40 Euro), gegen den Lenz Einspruch einlegte, über den am 07.11.2022 am Amtsgericht Tiergarten verhandelt werden soll.
- Hendrik Sodenkamp, einer der Mittäter, wurde am 02.05.2022 wegen übler Nachrede gegen Personen des politischen Lebens zu einer Geldstrafe von 90 Tagessätzen zu je 50 Euro verurteilt. Dieses Urteil ist noch nicht rechtskräftig. Sodenkamp hat Berufung eingelegt, über die am 24.10.2022 am Landgericht Berlin verhandelt werden soll.
Nach Aufruf der Sache um 12:00 Uhr war weder Lenz noch sein Rechtsanwalt Hans-Eberhard Schultz erschienen.
Die zuständige Richterin am Amtsgericht Dr. iur. Karin Nissing, Leiterin der Abteilung 276, war sichtlich angefressen und berichtet zu Beginn der Sitzung, der Internist Dr. med. Bernhard Richter in Bad Wiessee habe Lenz ein ärztliches Attest ausgestellt.
Dr. Nissing sagt, sie habe heute kurz nach 9 Uhr ein Telefonat mit Dr. Richter geführt, der das Attest ausgestellt habe und ihn gefragt, wie es zur Ausstellung des Attests gekommen sei.
Dr. Richter habe laut Dr. Nissing gesagt, Lenz habe ihm gegenüber bekundet, er habe Hustenreiz und Halsschmerzen. Der Patient sei leicht verschnupft gewesen, aber einen Hustenreiz habe Dr. Richter nicht feststellen können während Lenz bei ihm vorstellig gewesen sei.
Lenz sei um 10 Uhr in der Sprechstunde von Dr. Richter gewesen. Der Arzt habe seinem Patienten einen Schnelltest mitgegeben, habe Dr. Richter laut Dr. Nissing berichtet. Um 12 Uhr sei Lenz wieder in die Sprechstunde gekommen und der Schnelltest sei dann positiv gewesen. Es habe sich um einen Schnelltest gehandelt, bei dem mit einem Stäbchen ein Abstrich in der Mundhöhle gemacht werde. Allerdings sei der Schnelltest nicht im Beisein des Arztes durchgeführt worden. Ein PCR-Testergebnis liege nicht vor, so Dr. Nissing. Damit fehle Lenz heute unentschuldigt.
Um 12:08 Uhr geht plötzlich die Tür auf und der Rechtsanwalt Hans-Eberhard Schultz betritt schnaufend den Saal. In seiner Begleitung der junge Referendar Brethauer. Schultz hört die letzten Worte der Richterin, die ihrer Protokollantin den Inhalt des Telefonats mit dem Arzt diktiert. Schultz ist außer sich und ruft quer durch den Saal: «Da kommt man rein und es wird schon was diktiert. Das ist ja nicht zu fassen! Was soll denn das? Eine Viertelstunde wird immer gewartet. Sie haben mich um 6:45 Uhr angerufen. Um 6:45 Uhr konnten Sie mich anrufen, aber um 12 Uhr konnten sie mich nicht anrufen!»
Dr. Nissing versucht, Schultz zu beschwichtigen und wiederholt für den Verteidiger das Diktat. Daß man nach Aufruf der Sache eine Viertelstunde auf das Erscheinen von Verfahrensbevollmächtigen zu warten habe, dementiert Richterin Lisa Jani, Sprecherin der Berliner Strafgerichte.
Schultz sagt, Lenz fehle nicht unentschuldigt und sein Mandant habe ihm gegenüber telefonisch erklärt, er habe den Schnelltest ordentlich gemacht, seine Ehefrau Louise Mary Lenz, geb. Thomas, sei als Zeugin dabei gewesen. Schultz beantragt die Einstellung des Verfahrens wegen öffentlicher Vorverurteilung seines Mandanten.
Dr. Nissing setzt einen neuen Termin an für den 07.11.2022 um 10:50 Uhr. Die Richterin verläßt die Sitzung kopfschüttelnd mit den Worten: «Bei so vielen Verlegungen verlier ich noch den Überblick.» Das ist nachvollziehbar, denn der erste Termin mit Lenz war im Dezember 2021 geplatzt, der zweite am 17.01.2022, der dritte am 02.03.2022, der vierte am 06.05.2022, der fünfte am 05.10.2022. Lenz ist in diesem Verfahren bisher bei noch keiner einzigen der anberaumten Sitzungen erschienen. Am 07.11.2022 folgt nunmehr die sechste Terminierung.
Oberstaatsanwalt Dr. iur. Holger Brocke schien ebenfalls unzufrieden aufgrund des Nichterscheinens des Angeklagten. Bei der kommenden Sitzung am 07.11.2022 werde allerdings Herr Staatsanwalt Rosenberg, der die Anklageschrift verfaßt habe, zugegen sein.
Am 03.10.2022 schien Lenz noch nicht an Covid erkrankt zu sein. Am Tag der Deutschen Einheit hielt er in Prien am Chiemsee bei scheinbar bester gesundheitlicher Verfassung eine längere Rede während einer Versammlung, die laut politischen Beobachtern Verschwörungsnarrative reproduziert habe. Am Strand in Ägypten lag Lenz hingegen heute nicht.
Einen Sicherungshaftbefehl gegen Lenz zu beantragen, um den Angeklagten zwei Tage vor dem Termin inhaftieren zu lassen und vor Gericht vorzuführen, könnte die Staatsanwaltschaft allerdings nur, wenn Lenz unentschuldigt fehlt.
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